Das Verwaltungsgericht erlaubt die Versammlung des rechtsextremen Zusammenschlusses „Wir für Deutschland“ (WfD). Am 80. Jahrestag der Reichspogromnacht wird der Aufzug unter dem Motto „Für die Opfer von Politik“ ab 18.30 Uhr vom Washingtonplatz am Hauptbahnhof durch das Regierungsviertel ziehen. Vor dem Reichstag wollen die Rechtsextremen nach eigenen Angaben einen Schriftzug aus 500 Kerzen erstellen. Angemeldet sind 250 Teilnehmende. Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) geht trotz der terminlichen Provokation derzeit nicht von einer überregionalen Beteiligung aus.
Ein führender Protagonist der Gruppierung kündigte zudem an, dass die Rechtsextremen 48 Stunden vor Beginn der Veranstaltung eine zweite Versammlung mit einer Ausweichroute anmelden wollen, um Proteste durch Gegendemonstranten zu erschweren. Diese Route soll angeblich durch „einen links-alternativen Stadtteil“ führen. Diese neue Strategie war zuletzt im Sommer beim Heß-Marsch zu beobachten, als nach dem gescheiterten Aufzug in Spandau anschließend hunderte Neonazis ungehindert durch Friedrichshain zogen.
Veranstalter „Wir für Deutschland“
Die Gruppe „Wir für Deutschland“ (WfD) organisierte erst vor wenigen Wochen den Aufmarsch am 3. Oktober in Berlin mit rund 1.200 Teilnehmenden. WfD ist aus dem Berliner Pegida-Ableger hervorgegangen und wurde 2016 durch die „Merkel muss weg“-Aufmarschreihe bekannt, an deren erster Versammlung im März überraschend 3.000 Personen teilnahmen. [1] Nach dem anfänglichen Mobilisierungserfolg verlor die Protestreihe allerdings schnell an Zuspruch. Zuletzt waren im September 2017 nur noch rund 450 Teilnehmende zu verzeichnen. [2]
Ende 2017 konstituierte sich WfD als eingetragener Verein. Vorsitzender ist Enrico Stubbe, der zuvor Funktionär der rechtsextremen Splitterpartei „Pro Deutschland“ war und stets als Anmelder der „Merkel muss weg“-Aufmärsche fungierte. Neben Stubbe ist der Brandenburger Kay Hönicke aus Schönewalde (Elbe-Elster) eine der zentralen Figuren von WfD, der auch mehrfach bei anderen rechtsextremen Versammlungen als Redner auftrat. Hönicke fiel 2017 mit einem Facebook-Beitrag auf, in dem der „Hobbyjäger“ [3] ankündigte, „bewaffnete Kampfgruppen“ gründen zu wollen. [4] In den vergangenen Wochen trat er als Redner bei den flüchtlingsfeindlichen Versammlungen in Chemnitz in Erscheinung.
Bislang sind für den 9. November keine Redner_innen angekündigt. Zudem sind Fahnen, Megafone und Parolen unerwünscht.
Mobilisierung im Netz und auf der Straße
Für den Aufmarsch wird seit September geworben. Nach derzeitigem Stand findet die Mobilisierung fast ausschließlich in sozialen Netzwerken statt. Bei der Facebook-Veranstaltung sind aktuell 1.088 Interessierte zu verzeichnen. Zum Vergleich: Bei dem WfD-Aufmarsch am 3. Oktober waren über 4.000 Personen interessiert, real waren etwa 1.200 Menschen erschienen. Insofern sind die Interessensbekundungen bei Facebook in diesem Spektrum nur ein schwacher Indikator für die realen Teilnehmer_innenzahlen am Veranstaltungstag. Das haben auch die vergangenen „Merkel muss weg“-Versammlungen mehrfach bewiesen. Sie belegen höchstens den Grad der Verbreitung der Veranstaltung in den sozialen Medien. Derzeit ist eine überregionale Mobilisierung wie zum 3. Oktober nicht zu beobachten, weswegen die MBR eine ähnlich hohe Beteiligung nicht erwartet.
Der 9. November hat für die rechtsextreme Szene große Bedeutung. Regelmäßig wird er von Rednern als „Schicksalstag der Deutschen“ bezeichnet und wegen mehrerer historischer Ereignisse auch für Provokationen unterschiedlicher Art genutzt. [5] Am 9. November fand nicht nur der Mauerfall im Jahr 1989 statt, sondern u.a. auch die antisemitischen Novemberpogrome 1938 und der gescheiterte Hitler-Ludendorff-Putsch in München 1923. Wegen des letztgenannten Ereignisses wurde der Tag im Nationalsozialismus zum Feiertag erklärt und den 1923 umgekommenen Nationalsozialisten in Trauerzeremonien alljährlich als „Blutzeugen der Bewegung“ gedacht. Rechtsextreme Aufmärsche an diesem Tag sind somit ein geschichtsrelativierender Affront gegen die Opfer des Nationalsozialismus und die Erinnerungskultur in Deutschland.
Ob WfD diese auch als „Opfer von Politik“ ansieht, ist unklar. Der Veranstaltenden halten ihren Aufruf bewusst allgemein. In einem Videostatement heißt es allerdings von Hönicke, man wolle „den Opfern gedenken aus Politik, aus DDR-Zeiten und von der heutigen Politik. Und sicherlich aus Opfern von Vorkriegszeiten“ (Fehler im Original). Zudem forderte bereits beim letzten WfD-Aufmarsch am 3. Oktober der Bundesorganisationsleiter der NPD, Sebastian Schmidtke in seiner Rede nicht das erste Mal, dass der 9. November wieder zum Feiertag erklärt werden solle.
Bereits am 8. September wurde bei einem Aufmarsch in Köthen für den 9. November in Berlin mobilisiert. [6] Der Chef der rechtsextremen Gruppe „Thügida“, David Köckert, rief dazu auf, den 9. November als „ein Schicksalstag für das deutsche Volk“ dazu zu nutzen, dass es erneut ein „Schicksalstag werde, um diese Verbrecher davonzujagen“ (Gemeint ist die Bundesregierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel).
Ausgehend von vergangenen Versammlungen von WfD dürften sich die für den 9. November zu erwartenden Teilnehmenden aus demselben Personenspektrum zusammensetzen wie am 3. Oktober und den bisherigen „Merkel muss weg“-Aufmärschen: organisierte Rechtsextreme aus Kameradschaften, NPD, der Partei „Der III. Weg“, der „Identitären Bewegung“, Personen aus dem Reichsbürger-Spektrum, Fußball-affine Rechte und Hooligans, Mitglieder der „Patriotischen Plattform“ der AfD, Anhänger_innen rechter Splittergruppen und islam- sowie flüchtlingsfeindlicher Initiativen.
Alle Informationen zu den geplanten Gegenprotesten finden Sie bei unserem Partnerprojekt „Berlin gegen Nazis“.
[1] https://www.tagesspiegel.de/berlin/marsch-durch-berlin-mitte-demo-der-rechtsextremen-endet-friedlich/13312192.html
[2] https://rechtsaussen.berlin/2017/09/verflixte-7-mal-die-merkel-muss-weg-protestreihe-findet-vorerst-ihr-ende/
[3] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1043754.lautstarker-protest-gegen-rechtsextremen-aufmarsch-in-berlin.html
[4] https://www.moz.de/landkreise/oder-spree/frankfurt-oder/artikel9/dg/0/1/1593440/
[5] Vgl. z.B. diese Auswertung der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) zum 9. November 2015 https://www.berliner-register.de/content/antisemitische-vorf%C3%A4lle-am-9-november-2015-berlin, 2016 https://www.facebook.com/AntisemitismusRechercheBerlin/posts/1738264789828535 und 2017 https://www.facebook.com/AntisemitismusRechercheBerlin/photos/rias-sammlung-bekannt-gewordener-antisemitischer-vorf%C3%A4lle-in-berlin-und-im-bunde/1947882938866718/
[6] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/kundgebung-von-rechten-in-koethen-kein-zweites-chemnitz-vorerst-a-1227283.html