Für den 19. August 2017 plant die rechtsextreme Szene einen Aufmarsch in Berlin anlässlich des Suizids von Hitler Stellvertreter Rudolf Heß. Bislang ist der Aufzug unter dem Motto „Mord verjährt nicht“ im Bereich Charlottenburg-Wilmersdorf und Spandau ab 12 Uhr für 500 Teilnehmende angemeldet. Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) geht davon aus, dass mit deutlich mehr Rechtsextremen gerechnet werden muss.
Nach Informationen des Tagesspiegel sei folgende Route geplant: Bahnhof Spandau – Klosterstraße – Wilhelmstraße – Melanchthonplatz – Wilhelmstraße – Gatower Straße – Heerstraße – Pichelsdorfer Straße – Wilhelmstraße – Seeburger Straße – Elsflether Weg – Brunsbütteler Damm – Bahnhof Spandau.(1)
Vor 30 Jahren hatte sich der verurteilte Kriegsverbrecher Heß in seiner Haftanstalt im Bezirk Spandau das Leben genommen. Seitdem verbreiten Neonazis die verschwörungsideologische Behauptung, er sei durch die Alliierten ermordet worden. Aufgrund des Jahrestages wollen die Rechtsextremen nun im Bezirk des mittlerweile abgerissenen Kriegsverbrechergefängnisses aufmarschieren.
Thema mit großer Symbolkraft
Auch, wenn nahezu ausschließlich Angehörige der Neonaziszene mit dem Thema angesprochen werden, darf die hohe Symbolkraft des Hitlerstellvertreters in diesen Kreisen nicht unterschätzt werden. Nicht nur haben geschichtspolitische Themen und ihre revisionistische Umdeutung in der Szene eine enormem Stellenwert, auch die Glorifizierung des Nationalsozialismus über einen ihrer prominentesten Vertreter, der auch nach dem Sturz des NS-Regimes der Ideologie die Treue hielt, spricht weite Teile der Szene an. In seinem Schlusswort im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess sagte Heß: „Ich bin glücklich, zu wissen, dass ich meine Pflicht getan habe meinem Volke gegenüber, meine Pflicht als Deutscher, als Nationalsozialist, als treuer Gefolgsmann meines Führers. Ich bereue nichts. Stünde ich wieder am Anfang, würde ich wieder handeln wie ich handelte, auch wenn ich wüsste, dass am Ende ein Scheiterhaufen für meinen Flammentod brennt.“ Aus diesem Grund wurden die Personalie Heß sowie die sich darum rankenden Mythen auch regelmäßig von fast jeder populäreren Rechtsrock-Band besungen, wodurch selbst Szeneeinsteigern die Thematik ein Begriff ist. Im Oktober 1986 gab es aus der Neonazi-Szene sogar einen rechtsterroristischen Befreiungsversuch des Kriegsverbrechers. Ein „Befreiungskommando Rudolf Heß“ hatte einen Sprengstoffanschlag auf ein Nebengebäude der Haftanstalt in Spandau verübt. (2)
In der Vergangenheit hatten Versammlungen um Rudolf Heß bereits großes Mobilisierungspotenzial bewiesen. Regelmäßig marschierte seit 2001 eine bis zu vierstellige Anzahl Neonazis beim alljährlichen „Rudolf-Heß-Gedenkmarsch“ durch das bayerische Wunsiedel, wo er begraben lag. Ab 2005 wurden die Aufzüge verboten, da sie „die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft“ verherrlichten und eine Störung des „öffentlichen Friedens in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise“ darstellten. Um die Aufzüge dennoch durchführen zu können, wurden sie daraufhin zu anderem Themen und unter anderem Motto angemeldet. Die Gemeinde wurde zur Neonazi-Pilgerstätte, weswegen sie das Grab 2011 einebnen ließ. Dennoch findet jährlich in Wunsiedel mindestens ein rechtsextremer Aufmarsch statt. Vergangenes Jahr kamen im November rund 250 Rechtsextreme zu einem „Heldengedenken“ in den Ort. (3)
Unabhängig davon führen Rechtsextreme seit Jahren bundesweit rund um den Heß Todestag am 17. August kleinere und größere Aktionen irgendwo im Bundesgebiet durch. Auch in Berlin kam es regelmäßig zu Aktivitäten der lokalen Szene. Das Netzwerk „Nationaler Widerstand Berlin“ führte in der Vergangenheit sogenannte „Rudolf-Heß-Aktionswochen“ durch, bei denen es im Stadtgebiet zu Plakatierungen, Sprühereien, Transparentaktionen und Sachbeschädigungen kam. So verübten zum Beispiel Neuköllner Neonazis 2010 mehrere Anschläge auf Parteibüros und zivilgesellschaftliche Einrichtungen im Bezirk durch, hinterließen dabei Losungen wie „Rache für Hess“, aber auch „Mord verjährt nicht“, dem Motto des diesjährigen Aufzuges. Daher sollte die mobilisierende Wirkung eines Aufmarsches zum 30. Todestags nicht unterschätzt werden.
Spektrenübergreifende Mobilisierung
Dass die Symbolkraft Heß’ in der Szene weiterhin ungebrochen ist, belegt auch die hohe Verbreitung der Veranstaltung auf rechtsextremen Seiten im Internet und in sozialen Medien. Trotz diverser Differenzen scheint der Termin am 19. August in Berlin-Spandau die zerstrittene Szene bundesweit einen zu können: Sowohl Gliederungen der NPD und ihrer Jugend, als auch „Die Rechte“-Strukturen, diverse Kameradschaften und „Autonome Nationalisten“, die sich dem „Antikapitalistischen Kollektiv“ (AKK) zurechnen, bewerben den Termin. Strukturen aus fast allen Bundesländern sind vertreten. Sogar Versände, Bands und Liedermacher sowie szenerelevante rechtsextreme Einzelpersonen rufen zum Aufmarsch auf. Am 15. Juli im thüringischen Themar, bei einem der größten Rechtsrock-Konzerte der letzten Zeit mit 6.000 Besuchern, wurde der Termin ebenfalls offensiv beworben. (4)
In den vergangenen Wochen sind der MBR bundesweit Plakatierungen, Farbschmierereien und Transparentaktionen, die für den Aufmarsch werben, bekannt geworden. Zum Teil kam es dabei auch gezielt zu Straftaten gegen Einrichtungen wie Kirchen. Der überwiegende Teil der Aktivitäten fand in Berlin statt, gefolgt von den Bundesländern Sachsen, NRW und Rheinland-Pfalz.
Auf der Facebook-Seite der Veranstaltung wird von einer koordinierten Busanreise gesprochen. Zudem wird mit mehrsprachigen Aufrufen im europäischen Ausland mobilisiert, allerdings ist die Resonanz hier bisher überschaubar. Bekannt sind zwar Terminhinweise aus den Niederlanden, Österreich, Frankreich und Finnland, jedoch nicht von den maßgeblichen rechtsextremen Akteuren aus diesen Ländern.
Bewusst halten sich die Organisatoren über ihre Hintergründe bedeckt. Auf der Internetseite fehlen sowohl ein Impressum als auch jegliche Verweise in die Szene. Damit soll offensichtlich der überparteiliche Charakter betont werden. Nach Informationen des Tagesspiegels (5) soll hinter der Anmeldung der bekannte Neonazi Christian Malcoci aus Grevenbroich (NRW) stecken. Der 54-jährige ist „einer der führenden Köpfe der militanten Neonazi-Bewegung in Deutschland und in den Niederlanden“, so Wikipedia.(6) Er war in diversen rechtsextremen Gruppierungen aktiv und unter anderem Verfasser des Parteiprogramms der verbotenen Neonazipartei FAP sowie an einer Besetzung des Essener Büros der dpa anlässlich des 100. Geburtstags Adolf Hitlers im Jahre 1989 beteiligt. Malcoci meldete unter einem ähnlichen Motto wie am 19. August in Spandau bereits 2006 einen Aufmarsch in Nürnberg an: „Recht statt Rache – Revision der Nürnberger Prozesse“ lautete das Motto der spektrenübergreifenden Neonaziversammlung zum 60. Jahrestag der Kriegsverbrecherprozesse.
In einem früheren Bericht des Tagesspiegels (7) hieß es noch, Anmelder sei Christian Häger. Bei ihm handelt es sich um eine Führungsfigur aus den Strukturen des ehemaligen Aktionsbüros Mittelrhein, das als „Vernetzungsplattform der militanten neonazistischen Freien Kameradschaften“ (8) gilt. Häger stand wegen dieser Aktivitäten bis vor kurzem in Koblenz vor Gericht. Derzeit fungiert er als Vorsitzender des NPD-Kreisverbands Mittelrhein (Rheinland-Pfalz).
Im Aufruf nehmen die Organisatoren bewusst keinen Bezug auf das Wirken von Heß, offensichtlich um keine Angriffsfläche für ein mögliches Verbot der Veranstaltung durch NS-Verharmlosung wie 2005 in Wunsiedel zu bieten. Stattdessen wird sich ausschließlich auf die verschwörungsideologische Behauptung, es handele sich bei Heß’ Suizid um einen Mord der Alliierten bezogen. Mit dem Slogan „30 Jahre Propaganda und Mutmaßungen sind genug!“ fordern die Rechtsextremen die Freigabe der Akten zum Fall.
Alle Informationen zu den geplanten Gegenprotesten finden Sie bei unserem Partnerprojekt Berlin gegen Nazis
(1) http://www.tagesspiegel.de/berlin/zum-todestag-von-rudolf-hess-neonazis-duerfen-in-spandau-auflaufen/20192702.html
(2) https://www.antifainfoblatt.de/artikel/der-tod-von-rudolf-he%C3%9F
(3) http://www.br.de/mediathek/video/sendungen/nachrichten/wunsiedel-dritter-weg-gegendemo-100.html
(4) http://www.spiegel.de/politik/deutschland/neonazi-konzert-in-themar-ein-dorf-wehrt-sich-a-1158050.html
(5) http://www.tagesspiegel.de/berlin/zum-todestag-von-rudolf-hess-neonazis-duerfen-in-spandau-auflaufen/20192702.html
(6) https://de.wikipedia.org/wiki/Christian_Malcoci
(7) http://tagesspiegel.de/berlin/berlin-spandau-neonazis-planen-aufmarsch/19982488.html
(8) https://de.wikipedia.org/wiki/Aktionsb%C3%BCro_Mittelrhein